Neue Ausgabe von “Regards croisés” erschienen
Der Philosoph, Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer Roger Caillois (1913–1978) gehörte zu den vielseitigsten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Sein Gesamtwerk wirkt auf den ersten Blick äußerst heterogen. Beim näheren Hinschauen lässt sich feststellen, dass für Caillois zwischen so scheinbar gegensätzlichen Themen wie dem Leben der Insekten, der Erscheinungsform von Steinen, dem Krieg und der fantastischen Literatur durchaus Verbindungen bestehen. Caillois‘ transdisziplinäre Komparatistik der Lebens- und Wissensbereiche und -gemeinschaften kommt gleichwohl in internationalen Debatten etwa im Umfeld der Environmental Studies und des Neomaterialismus in Natur-, Kultur- und Literaturwissenschaften relativ selten vor. Daher widmet die Zeitschrift „Regards croisés“ dem Denker der ‚diagonalen Wissenschaften‘ nun ein deutsch-französisches Themenheft.
Erschienen u.a. hier.
Einzige Welle, allmähliches Meer
Rhythmus in Literatur und Kunst um 1900. West – Ost
Der Rhythmus, so scheint es, liegt in der schönen Form, dem ästhetischen Schwung, der kunstvollen Bewegtheit. Doch es gab immer auch andere, weniger auf Distinktion des Ästhetischen gerichtete Rhythmus-Vorstellungen: solche, die man heute eher unter Schlagworten wie Prozessualität oder Flow verbucht und mit einem Modus der Teilhabe und des Mitseins assoziieren kann.
Dieses Sein im Rhythmus kam erstmals in den Künsten um 1900 zum Tragen, als man bei aller Prägung durch klassische Philosophie auch über Europa hinausschaute – nach Fernost, wo Praktiken wie Lyrik oder Kalligraphie von jeher ohne Kunstmetaphysik auskommen. Auf verschiedene Weise dem geistigen Osten zugetan, verstanden etwa Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal das Rhythmische als eine Art Achtsamkeit für den allen Veränderungen innewohnenden Fluss von Beziehungen.
Dieser aus der Berührung mit Japan und China hervorgegangene Rhythmusbegriff erlaubt es nicht nur, die Ästhetik der frühen Moderne neu zu verstehen. Die der ‚west-östlichen’ Rede von Rhythmen eigene Spannung von Form und Fließen birgt vielmehr auch ein hohes Potenzial für die heutige Theoriebildung zum Thema Zeit und Darstellung.
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Denkfigur Rhythmus
Probleme und Potenziale des Rhythmusbegriffs in den Künsten
Als Zeitbegriff kann ‚Rhythmus‘ ganz unterschiedliche interdisziplinäre Fragen anregen: Wie hängt die Zeitlichkeit, die wir als rhythmisch erfahren, mit der physikalischen Zeit und unserem Bewusstsein von ihr zusammen? Ist der Rhythmus eines Gedichts zwangsläufig der sprachliche, metrische Wortrhythmus oder meint rhythmisches Erleben noch viel mehr? Nehmen wir auch Bilder, unbewegte zumal, rhythmisch gegliedert wahr? Ist dieser Rhythmus im Bild zu situieren oder ist er ein Modus der Erfahrung?
Wie diese Beispiele zeigen, problematisiert die Rede von Rhythmen die unserem aisthetischen Weltbezug eigene zeitliche Dimension. Aber sie ist auch selbst problematisch: Es gibt kaum einen Versuch, Rhythmus zu definieren, der sich nicht, ob gewollt oder ungewollt, auf frühere Erklärungsmuster bezöge. Diese aber haben ihren je eigenen historischen Ort und sind nicht unbedingt zeitlos gültig. Ist die Rede von Rhythmen also in erster Linie ein historisch zu rekonstruierendes Phänomen? Kann es überhaupt noch einen systematischen Rhythmusbegriff geben? Was könnte gerade die ‚Theorie‘ für einen heutigen Rhythmusbegriff leisten?
Kurz, es bedarf eines kritischen Umgangs mit den Problemen und Potenzialen der historischen und systematischen Rede von Rhythmen in den Künsten, wie ihn dieser Band leistet. Während ‚Rhythmus‘ mal als Grundbegriff, mal hingegen als inflationär gebrauchte Worthülse galt und gilt, zeigt dieser Band, dass sich der Terminus insbesondere dann als sinnvoll erweisen könnte, wenn man die Widersprüche, auf die er hinweist, nicht künstlich aufzulösen versucht, sondern offen in die Rede von Rhythmen einbezieht.
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Vorgriffe auf das schöne Leben
Weimarer Klassik und Pariser Mode
Goethe war nie in Paris. Mehr noch, die Kultur der im späten 18. Jahrhundert tonangebenden französischen Metropole scheint am klassischen Weimar insgesamt vorbeigegangen zu sein: Die Klassiker, so schien es bislang, bezogen ihre literarische Inspiration und künstlerische Bildung in erster Linie aus dem ‚antiken’ Süden, etwa Rom. Mit dieser Vorstellung aber, so zeigt diese Studie, ist das Bild der Weimarer Klassik unvollständig. Vielmehr wurde im beginnenden urbanen Zeitalter das Pariser Leben nirgendwo so akribisch als ästhetisches Phänomen studiert wie im klassischen Weimar, fast leidenschaftlich stilisiert man sich als Gegenpol zur Großstadt. Doch dass eine kategorische Abwehr der Pariser Populärkultur – Mode, Konsum, Kunst fürs Publikum – nicht die Antwort auf die längst greifbaren epochalen Veränderungen der Kultur sein konnte, stand auch und gerade Goethe schon früh deutlich vor Augen. Die Studie zeichnet daher nicht nur das deutsche Paris-Bild um 1800 am Weimarer Beispiel nach. Sie deckt auf, dass der abwehrende wie faszinierte Einblick in das Dazwischen von Kunst und Konsum die geheime Triebfeder ist, mit deren Wirkung sich vom Werther-Roman bis zu Faust II Goethes Begriff des Schönen in seiner bis heute gültigen Gestalt erst entfalten konnte.
Nachtseite des Sinnbilds
Die romantische Allegorie
Die Allegorie ist in vielerlei Hinsicht das Herzstück der romantischen Kunsttheorie. Die Romantiker entdecken in der tradierten rhetorischen Figur der Allegorie ein neues Potential, um die Relation von Zeichen und Bedeutung auf eine neue Grundlage zu stellen. Der klassische enge Zeichenmodus der Allegorie, dem zufolge im gegenständlich Vorgestellten ein konzeptuell Gemeintes zu lesen ist, wird in der Romantik unterlaufen, und doch wird offensiv an der Tradition des allegorischen Bedeutens festgehalten. Die Deutungsansätze hierzu divergieren bislang. Es wurde ebenso argumentiert, dass Romantiker damit auch den Anspruch universalen Bedeutens fortführen, wie auch, dass sie im Gegenteil die Produktion von Sinn einem Spiel selbstbezüglicher Formen ohne verbindliche Bedeutung anheimgeben. Das vorliegende Buch schlägt eine andere Lösung vor: Es profiliert die der Allegorie inhärente Temporalität. Die im allegorischen Modus zeitlich artikulierten Widerspruchserfahrungen zwischen Zeichen und Bedeutung können ein zentriertes Zulaufen des Dargestellten auf den einen Sinn verhindern und mittels der Temporalität dieses Prozessierens dennoch Einsichten vermitteln. Mit dem Fokus auf Zeit und Darstellung adressiert das Buch Grundfragen der Romantik und schlägt eine Brücke zur Theorie der Allegorie in der Moderne.
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Schrift im Bild
Rezeptionsästhetische Perspektive auf Schrift-Bild-Verhältnisse in den Künsten
Herausgegeben zusammen mit Johannes Grave
Wenn Schrift im Bild erscheint, partizipiert sie offenbar nicht einfach nur am Bildträger, sondern prägt den Rezeptionsvorgang auf spezifische Weise. Denn sie eröffnet dem Rezipienten die Wahl zwischen verschiedenen Wahrnehmungsmodi, verlangt ihm aber auch einen oder mehrere Wechsel zwischen dem Sehen und dem Lesen ab. Der vorliegende Band geht davon aus, dass dabei verschiedene, durchaus auch einander widerstreitende Zeiterfahrungen angeregt werden. Die besondere Bild-Text-Relation der Schrift im Bild lässt sich nicht allein auf der reinen Bedeutungsebene verstehen, da ihr Spannungsverhältnis im Vollzug der Rezeption immer neu aktualisiert werden muss. Hiervon ausgehend, erproben die Autorinnen und Autoren dieses Bandes neue Ansätze, um das Verhältnis der Elemente von Bild und Schrift zu analysieren. Dabei steht nicht zuletzt die für Text-Bild-Relationen bislang eher selten gestellte Frage im Raum, ob das spannungsreiche Zusammenspiel von Bildbetrachtung und Schriftlektüre den Rezipienten dazu anregt, die Temporalität seiner eigenen Wahrnehmung bewusst zu erfahren.
https://www.wehrhahn-verlag.de/public/index.php?ID_Section=1&ID_Product=1239
Marcel Proust et les Arts Décoratifs
Poétique, matérialité, histoire
Herausgegeben zusammen mit Julie Ramos
À la recherche du temps perdu retrace toute une histoire du goût, de la mode et du décoratif qui invite à un dialogue entre histoire de l’art et approche philologique. Cet ouvrage interroge les potentialités de l’objet matériel tel qu’il apparaît dans le roman.
Das Auge der Sprache
Ornament und Lineatur bei Marcel Proust
Marcel Proust ist nicht nur ein Denker der Erinnerung, sondern auch ein Dichter der Wahrnehmung. Dieses schreibende Sehen gipfelt, so der Ansatz dieser transdisziplinären Studie, in der Beschreibung von Ornamenten und Lineaturen. »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« birgt als Roman eine ganze Kunstgeschichte. Aus der Kunstkritik und John Ruskin-Lektüre hervorgehend, wird diese für die dichterische Sprache als einem visuell geschulten, immer sensibleren Organ der Wahrnehmung aber inszeniert und arrangiert: durch das Ornament, das, zwischen Zeichen und Bezeichnetem vermittelnd, eine neue Ordnung des Schreibens und Sehens hervorbringt. Selbstbeobachtung von Wahrnehmung, physiognomisches Rätselbild einer kunstgesättigten Lebenswelt um 1900 und Symbolfigur eines modernen unendlichen Schreibens – in diesem ornamentalen Blick, im Auge der Sprache, gelingt es Prousts Roman, vielleicht als letztem zwischen Belle Epoque und Moderne, in der Ordnung des Schönen die unabschließbare Wahrnehmung zu bannen.